26.12.2008

Liuvar Alveredar

"Und jetzt?", fragte Luc.
"Jetzt wirst du etwas trockenes Holz suchen, und wir sehen uns nach einer windgeschützten Stelle um, um dort ein Lager aufzuschlagen. Man muss auf der Lichtung übernachten." Yulivee senkte ihre Stimme, als Myrielle zu ihnen zurückkehrte. "Vielleicht wird dann ... etwas geschehen. Auf jeden Fall aber hast du der Kleinen ihr Lachen zurückgegeben und ihr eine wunderbare Schneeballschlacht geschenkt. Ich finde, allein das war unsere Reise wert."
Er ging zum Rand der Lichtung und tastete im Dunkel nach dürren Ästen. Er schrammte sich die Hände an gesplittertem Holz auf, strauchelte und stieß sich einmal den Kopf an einem Eichenstamm. Dann kam Myrielle. Sie trug einen Stein, wie er ihn auch einmal gefunden hatte. Er leuchtete von innen heraus. Luc dachte an die Heidengöttin im Rosengarten in den Ruinen. An die Göttin, die er enthauptet hatte. Das Herz wurde ihm schwer.
Myrielle sagte etwas. Sie leuchtete in sein Antlitz. Das Licht des Steins schmerzte nicht in seinen Augen.
Myrielle wiederholte ihre Worte, doch er konnte sie nicht verstehen. Er kniete sich vor ihr in den Schnee. "Yulivee wird mir gleich übersetzen, was du sagst."
Das Mädchen versuchte es noch einmal. Endlich zuckte sie mit den Schultern. Der leere Ärmel pendelte dabei hin und her.
Luc presste die Lippen zusammen. Hoffentlich irrte sich Ollowein. Er würde alles darum geben, wenn die Kleine in dieser Nacht ihr Wunder bekam.
"Liuvar Alveredar", sagte sie feierlich und gab ihm einen scheuen Kuss auf die Wange. Dann klemmte sie sich so viel Reisig, wie sie nur tragen konnte, unter den Arm und kehrte zum Lager zurück.
Der junge Ritter legte sein Holz bei der Feuerstelle nieder. Myrielle blies mit Begeisterung auf die Glutfunken, die Yulivee in ein Bett aus Zunder geschlagen hatte.
Er ging hinüber zu Ollowein, der die Pferde versorgte.
"Was heißt Liuvar Alveredar?"
"Wie kommst du darauf? Wer hat das zu dir gesagt?"
"Sag mir einfach, was es heißt."
"Liuvar Alveredar ist eine alte Grußformel. Man begrüßt sich unter Blutsverwandten so. Oder unter sehr engen Freunden. Man sagt das nicht oft, weißt du. In deiner Sprache würde es ungefähr heißen: Frieden für den Freund."

...

Er erhob sich und wollte zu ihr gehen, doch er hatte das Gefühl, von einer körperlosen Macht zurückgedrängt zu werden. Etwas war dort draußen ... Vielleicht kam es aus dem Licht oder auch aus dem uralten Monolithen.
Silbernes Licht umspielte Myrielle. Und plötzlich war sie verschwunden. Im selben Augenblick war auch der Bann gebrochen. Luc lief auf die Lichtung hinaus und rief den Namen des Mädchens. Er erhielt keine Antwort.
Er folgte ihrer Spur im Schnee bis zu der Stelle, wo sie verschwunden war. "Was ist das für eine Magie? Was ist mit ihr geschehen?"
Das grünsilberne Licht zog sich tiefer in die Wälder zurück. Hatte es Myrielle geholt? Luc sprang auf und wollte zum Rand der Lichtung laufen, als Ollowain ihm den Weg vertrat.
"Sie ist ins Mondlicht gegangen. Du wirst sie nicht mehr finden. Ihr Schicksal hat sich vollendet."
"Was soll das heißen? Du redest ja, als sei sie tot!"
"Du musst nicht um sie trauern, Luc. Wir Elfen sterben und werden wiedergeboren. Dieser Kreis endet erst, wenn wir unsere Erfüllung finden. Dann gehen wir ins Mondlicht. Es geschieht sehr selten, dass man Zeuge eines solchen Ereignisses wird."
"Aber sie lebt noch?"
"Das kann man nicht sagen. Wahrscheinlich nicht in der Art, wie wir es kennen."
Luc verstand nicht, wie der Elfenritter das meinte. Er tastete über den zerwühlten Schnee. Überdeutlich sah er die winzigen Eiskristalle. All seine Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Er schmeckte den auffrischenden Nordwind auf den Lippen und die Vielzahl von Düften, die um den Monolithen wogten.
"Das ist nicht gerecht!" Er schlug mit den Fäusten in den Schnee. Frost biss ihm in die Knöchel. "Sie sollte doch einen neuen Arm bekommen. Was habt ihr für grausame Götter! Warum haben sie das Mädchen in Vahan Calyd überleben lassen? Warum musste sie so viele Schmerzen erdulden, nur um dann hier, an diesem Ort, an den ihre Hoffnungen und Träume sie gebracht haben, zu sterben? Das ist nicht gerecht!"
"Luc, sie ist nicht tot. Nicht so, wie du es verstehst."
"Hör auf mit deinen elfischen Spitzfindigkeiten! Sie ist aus dem Leben gegangen. Oder irre ich mich da vielleicht?"
Der Elfenritter blieb ihm eine Antwort schuldig.
"Du hättest mir sagen müssen, dass dies geschehen kann. Dann wäre ich niemals mit ihr hierhergekommen."
"Es war ihr Schicksal, diesen Ort aufzusuchen. Oder vielleicht war es auch ihr Schicksal, dir zu begegnen. Mit dir eine Reise zu machen und ihr Lachen wiederzufinden. Oder einfach nur die beiden Worte Liuvar Alveredar zu dir zu sagen. Ausgerechnet zu dir, dessen Brüder ihre Eltern gemordet und sie verstümmelt haben. Sie ist in Frieden und Harmonie gegangen. Wir leben in Zeiten, in denen diese Gunst nur wenigen zu Teil wird."
"Erzähl mir nicht, dass das Ziel des Lebens der Tod ist, Elf!"
Ollowein ließ sich von seinem beleidigten und anklagenden Tonfall nicht aus der Ruhe bringen. "Sag mir, was das Ziel des Lebens ist, Menschensohn, wenn es nicht der Tod ist. Jedes Leben mündet in den Tod!"
"Sie war zu jung. Zu ..."
"Myrielle war jung. Doch ihr Leben war alt. Sie ist oft wiedergeboren worden. Ich bin mir sicher, dass sie erleichtert ist, ihre Erfüllung gefunden zu haben."
Luc sah in das alterlose Antlitz des Elfenritters. Vielleicht könnte er ihm ja glauben, wenn er nicht so traurige Augen hätte. Sie waren so fremd, die Elfen. So anders.

gefunden in Bernhard Hennen: Elfenritter - Das Fjordland, 2008.

1 Kommentar:

  1. Ich liebe diese Stelle. Das ist eindeutig eine der Besten. Danke, dass du das hier gepostet hast.

    LG Alex

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